Langsam schiebe ich mich Stück für Stück nach oben und sage mir innerlich vor „Vertraue deinen Füßen, vertraue deinen Füßen“, welche mein ganzes Gewicht auf winzigen Felsbröckchen halten. Körper an die Wand pressen und beim Griffe suchen langsam von rechts nach links ausbalancieren.
Wie ein Mantra sage ich mir diese Worte innerlich immer wieder vor, damit Sie meine Angststimme übertönen, welche immer lauter wird und mir zuruft „Wenn du JETZT runterfällst, dann fliegst du einen Meter mindestens“ oder „Wenn du JETZT runterfällst, dann müssest du theoretisch rechts gegen die Wand klatschen“.
Wäsche waschen a lo cubanoNeu
Früh am Morgen machen wir uns auf dem Weg, denn meine Freunde wollen vor dem Klettertag noch eine Bekannte im Ort besuchen. Wie das hier in Kuba so üblich ist, kreuzt man da ohne sich Anzumelden einfach auf, so wie man gerade lustig ist. Die Freundin ist gerade am Wäschewaschen. Eine normale Waschmaschine wie wir sie aus Europa kennen gibt es hier nicht. Hier auf dem Land wird die Wäsche zunächst in Wasser mit Kernseife eingeweicht und dann in eine Art offene Waschmaschine mit zwei Öffnungen gegeben. In einer Öffung wird gewaschen und in der anderen geschleudert. Doch der Ausblick der sich einem hier bietet ist unbezahlbar.
Die versteckte Bucht im Mogote del Valle
Nachdem wir eine Weile gequatscht und den tollen Ausblick über das Tal genossen haben, machen wir uns auf dem Weg zum Klettersektor Ensenada de Raúl, denn heute wollen wir soviel wie nur möglich klettern. “Ensenada” bedeutet so viel wie “Bucht”, denn der Sektor versteckt sich zwischen den zwei Sektoren Milenio und Artista Filo de Cuchilla, welche in einer Art buchtartigen Tal an die Finca Raúl Reyes grenzen.
Um da hinzugelangen überqueren wir zunächst wieder die Finca von Raúl, folgen dem Palmenweg in Richtung Cueva de la Vaca und biegen dann nach Überwinden der Holztreppe im Viehgatter nach links ab. Heute erwartet uns hier keine Ziege oder ähnliches, in der Regel muss man hier auf diesem Pfad an so manchem Vieh vorbeilaufen.
Wandern im Jurassic Park
Nun führt uns ein steiniger Pfad hoch hinauf durch den Wald. Wir kraxeln nach oben und passen auf, dass wir auf den taunassen Steinen nicht ausrutschen. Stille umgibt uns und der herrlich, frische Wintermorgen erfüllt uns mit Energie und Tatendrang. Vögel zwitschern in der Morgensonne und vom Weiten hört man die Rufe der Bauern im Dorf, welche Ihre Ochsen und Pferde antreiben. Endlich gelangen wir zur besagten Bucht und ich fühle mich wie Alice im Wunderland.
Das grüne Tal ist super verwachsen und gibt nur einen Pfad frei der sich ungewiss durch das hochwuchernde Gestrüpp windet. Alles blüht um uns herum und die Blätter schimmert in der Morgensonne. Rund um die Bucht kann ich mehrere vereinzelnd verausragende graue Felsen ausmachen. Ich erinnere mich daran, dass ein Bekannter diese Ecke als “Jurassic Park” bezeichnet hat – da ist was dran!
Die Felsen der Ensenada de Raúl
Ricky erklärt mir, dass es Routen an allen hier stehenden Felsen gibt, dass die meisten jedoch nicht “gewartet” sind. Wir laufen einmal quer über das Tal und steuern einen ca. 30 Meter hohen Felsen an, den die Kletterer “Punta Repaso” nennen. Alle Felsen hier in der Ensenada de Raúl sind perfekt für Anfänger, da keine der Routen einen 6a übersteigt. Am Felsen mit dem Routen im 6er Bereich ist jedoch auch lange nicht mehr geklettert wurden. Nur an unserem Felsen und am Nachbarsfelsen namens “Punta Lider” wird noch aktiv geklettert. Trotzdem ist die Ensenada de Raúl für Kletterer aller Schwierigkeitsgrade zu empfehlen, denn die Routen bieten einen herrlichen Blick über das Viñalestal.
Scharfe Kanten, Kakteen und Palmen
Wir beginnen damit uns an den drei Routen des Punta Repaso aufzuwärmen. Auch wenn die Routen sehr einfach zu klettern sind, erfordern sie wegen der Gesteinsbeschaffenheit dennoch Durchhaltevermögen. Die Griffe sind besonders im oberen Bereich der mittleren Route super scharf und nichts für weichgecremte Damenhände.
“Die Felsen hier sind schon sauscharf, doch viel schlimmer ist der angrenzende Sektor Artista de Filo de Cuchilla. Die Route Filo de Cuchilla, ein 6a+ werde ich nie vergessen. Doch die allerschärfste Route hier ist die Hara Kiri, ein 6b”, meint Ricky als wird den Sektor verlassen und zeigt auf zwei sehr lange Routen am Ausgang der Bucht. “Super scharf, doch der Ausblick von da oben muss phänomenal sein”, denke ich mir beim Begutachten besagten Folterfelsens.
Die Fledermaushöhle
Wir gelangen wieder an die Weggabelung im Viehgatter hinter der Finca Raúl Reyes. Der Sektor den wir uns als nächstes vorgenommen haben, ist der Paredón de Josué. Zu diesem Sektor gelangt man mittels Durchqueren der Cueva de la Vaca, denn er liegt auf der anderen Seite vom Mogote del Valle. Also einmal die hundert Treppenstufen zur Höhle hinaufhecheln und auf gehts durch das Fledermausloch in den Mogote hinein. Der Boden ist übersäht von Fledermauskot und lässt auf die Vielzahl der hier lebenden Nachtgestalten schließen. Über unseren Köpfen tönt aufgeregtes Fiepen und Flattern durch den zappendusteren Höhlentunnel. „Ist bestimmt nicht so angenehm, wenn sich eine Fledermaus in deinen Haaren verfängt“, denke ich mir und ziehe den Kopf etwas tiefer ein.
Klettersektoren rund um das Vega de Pelón Tal
Schon sehen wir Licht am Ende des Tunnels und haben die andere Seite des Viñalestal mit Ausblick auf den riesigen Mogote Palmarito mit dem bekannten Sektor Palenque vor uns liegen. Über einen rutschigen Matschweg klettern wir den Berg ins Tal Vega de Pelón herunter und laufen über eine Wiese zum Sektor Paredón de Josué.
Hier im Tal Vega de Pelón grenzen weitere Klettersektoren an. Der Paredón de Josué ist mit ca. 17 Routen der größte und meist Besuchteste. In unmittelbarer Reichweite stehen die traumhaften Felsen des Jaruquiño mit drei befestigten Routen und den Sektor Geisha mit zwei weiteren schweren Routen.
Klettern am Paredón de Josué
Die Kletterwand des Paredón de Josué lässt mit einem herrlichen Stalaktiten in der Mitte und der interessanten braun-schwarzen Gesteinskombination das Herz eines jeden Kletterers höher schlagen. Das Gestein schaut angenehm glatt aus und wird unsere vom Punta Repaso malträtierten Hände hoffentlich entschädigen.
Zukunftsprojekte
„Hier ist ein neues Projekt für dich“, meinte Ricky zu mir. „Ein schöner, kurzer 6a mit guten Griffen, den du im Vorstieg klettern wirst“. Ich fange gerade erst an das Leadklettern zu lernen und bin als Grünschnabel bereits zufrieden wenn ich einen kurzen 5er unter Herzrasen und Zitteranfällen schaffe. „Das schaffe ich doch nie“, meine ich zu ihm. „Hast du nicht gesehen, wie ich heute beim Punta Repaso fast alle Exen falsch angebracht habe und auf der einfachen Route fast vor Angst gestorben bin“. „Poco a poco“, meint Ricky. „Probiere es wenigstens und so lernst du dir bei jeden Versuch ein bisschen mehr zu vertrauen und kannst langsam dein Kletterniveau heben.“
Geforderte Fähigkeiten beim Klettern
Denn zum Klettern braucht man laut Ricky drei Fähigkeiten – Kraft, Mentale Stärke und Technik. Kraft vom vielen Klettern in Havanna hab ich bereits und kann in Top Rope einen 6a und maximal 6b klettern. Technik – minimal vorhanden, dafür wollte ich dieses Jahr im Januar eigentlich einen Kletterkurs absolvieren, der aber leider abgesagt wurde. Mentale Stärke beim Klettern – nie gelernt, denn beim Top Rope Klettern wird dies nicht so stark gefördert, da man ja ständig vom oben per Seil abgesichert ist. Beim Leadklettern ist man nur bis zum zuletzt geclippten Bolt gesichert und kann daher schonmal einige Meter fallen bis der Sturz vom letzten Bolt aufgefangen wird. Das führt dazu, dass man beim Leadklettern viel vorsichtiger unterwegs ist und gerade als Anfänger die Griffe intuitiv zu stark festhält, wobei man viel mehr Energie und Kraft verbraucht als beim Tope Rope Klettern.
Angstzustände
Ricky und Elvira machen wir die Sache so angenehm wie möglich – clippen die Route und lassen mir das Seil im ersten Bolt, damit ich beim Herunterfallen nicht ungesichert auf den Felsen unter mir krachen kann. Jetzt kann eigentlich nichts mehr schiefgehen, doch meine Hände beginnen schon nach dem ersten Bolt an zu schwitzen. Fasst kann ich den nächsten Bolt erreichen, wo ich mein Seil einhaken muss. Da realisiere ich, was ich hier eigentlich mache und bemerke den letzten Bolt ca. 1 Meter unter mir, was dazu führt dass meine Waden wie Espenlaub anfangen zu zittern und meine Hände vom Angstschweiß vom Griff abzurutschen beginnen. „La maquina de coser“ (Die Nähmaschine) nennen die Kubaner liebevoll diese Körperreaktion die jeder Kletterer zu gut kennt. Ich presse mich gegen die Wand und konzentriere mich darauf ruhig ein- und auszuatmen und das unkontrollierte Zittern im Fuß in Griff zu bekommen.
Climbing Mantra
Vorsichtig löse ich eine Hand vom Griff, vertraue auf meinen Gleichgewichtssinn und dem Halt unter meinen Füßen und greife zum Chalkbeutel. Danach die andere Hand, ruhig ein- und ausatmen und die Angststimme ignorieren. Als ich meinen Hände dank des Magnesia wieder einen besseren Griff haben, wage ich es die Exe in Angriff zu nehmen. Mit einer Hand stabilisiere ich so gut es geht meinen Körper und hebe mit der linken Hand langsam das Seil unter mir nach oben. Mit den Zähne halte ich es fest und versuche es einzuklemmen. Die Exe rutscht mir ein paar Mal durch die Finger und schon wird die Angststimme wieder laut. „Wenn du JETZT abstürzt hast du mindestens einen extra Meter Seil in der Hand und fliegst garantiert mindestens 2 Meter weit nach unten.“ Meine Füße fangen schon wieder unkontrolliert an zu zittern, doch dann schnappt das Seil in der Exe endlich ein und ich lasse mich fix und fertig mit den Nerven ins Seil fallen.
Ausruhen und weiter gehts
Alles in meinem Körper rebelliert und drängt danach sich sofort nach unten zu begeben und wieder sicheren Halt unter den Füßen haben. „Lass dir Zeit Rebekka“, ruft Ricky von unten. „Kurz Ausruhen und dann machen wir das Seil richtigrum rein“. Scheiße – auch das noch!!! Ich schaue mir mein Werk an und sehe das das Seil am falschen Ende der Exe hervorschaut. Ich hab es schon wieder falschrum geclippt. Unter Stress kann ich wohl nicht logisch denken. Meine Gedanken spielen bereits verrückt und sagen mir „Du willst dich hier oben wieder ausclippen? Weißt du wie weit du dann runterfällst, wenn du den Halt verlierst?“.
Fix und fertig und überglücklich
Doch mein Kampfgeist ist endlich zum Leben erwacht und mittlerweile bin ich stocksauer auf die Schisserstimme in mir. Ich nehme all meinen Mut zusammen, stelle meine Füße so sicher es geht auf und clippe die Exe aus dem Bolt und setzte sie wieder richtig herum ein. Gar nicht so einfach, denn das Seil wiegt eine Menge. Das sollte mir besser nicht an einer 30 Meter Wand in Jibacoa passieren, wo sich das Seil mit jedem Meter gefühlt ein Kilo schwerer anfühlt.
Den Rest der Route mache ich unter Lebensangst zu Ende, lasse den Umlenker jedoch aus. Mein Kopf ist schon wie leer gefegt, ich habe einen Blackout und kann mich nicht mehr erinnern wie man das Seil richtig in den zwei Exen am Umlenker anbringen soll.
Durchgeschwitzt und fix und fertig mit den Nerven komme ich unten an und will eigentlich nur noch unter die Dusche und schlafen. Ricky und Elvira sind zufrieden. „Super!!! Du hast etwas in Angriff genommen, was dein Kletterlevel weit übersteigt! Du wirst sehen, beim nächsten Mal mit besserer Leadtechnik wirst du die Route komplett schaffen! Es ist ganz normal, dass man tausend Tode stirbt und schwitzt und zittert, wenn man etwas probiert, was seinen aktuellen Horizont überragt – so wächst man über sich hinaus!“ Obwohl ich die Route nicht beenden konnte bin ich zufrieden mit mir, den Mut gehabt zu haben, es wenigstens zu probieren.
Bauer Josué & kubanische Leckereien
Das wollen wir feiern und begeben uns zurück ins Dorf. Diesmal haben wir keine Lust auf die Treppenstufen der Cueva de la Vaca und nehmen einen anderen Weg zurück ins Dorf.
Unser Weg führt uns an einer Holzhütte vorbei, an der uns ein Bauer freundlich zuwinkt. Elvira und Ricky scheinen Ihn zu kennen und begrüßen ihn freudig. „Das war der Bauer Josué“, klären Sie mich später auf. „Nach ihm ist der Klettersektor benannt worden“.
Der Trampelpfad führt uns nun auf den matschig rostroten Pferdetrampelpfaden ins Dorf zurück. Wir beeilen uns, denn es beginnt zu nieseln. Und der kubanische Nieselregen kann sich bekanntlich innerhalb von Minuten in einen nervtötend langen Tropenregen verwandeln, den wir hier in der Pampa nicht aussitzen möchten. Schnell erreichen wir die örtliche Konditorei wo uns beim Anblick der bunten Leckereien das Wasser im Mund zusammenläuft. Hier sieht man mal wieder die kubanische Vorliebe für knallige Farben. Glücklich verspeisen wir unseren vor Lebensmittelfarbe strotzenden Kuchen, bevor es zurück zur Casa zum Entspannen geht.
Hinweise zum Klettern in Viñales – Sektor Ensenada de Raúl & Paredón de Josué
Diese beiden Sektoren verbergen sich am Mogote del Valle und sind einfach zu Fuß (von der Dorfmitte in ca. 30 Minuten) erreichbar.
An den vielen Sektoren des Mogote des Valle kann man sich problemlos eine Woche lang oder länger austoben und braucht aufgrund der unmittelbaren Nähe zum Dorf kein weiteres Fortbewegungsmittel. Empfehlenswert ist eine Unterkunft in der Straße Adela Azcuy Norte, welche Richtung Mogote del Valle verläuft.
Der Sektor Ensenada de Raúl mit seinem vier alleinstehenden Felsen ist besonders für Anfänger geeignet, die schwerste Route hier ist ein 6a. Doch auch erfahrene Kletterer kommen aufgrund der traumhaften Ausblicke voll auf Ihre Kosten. Anspruchsvoller sind die Routen des angrenzenden Sektors Artista de Filo de Cuchilla mit ebenso unvergesslichem Panoramablick.
Die gut gewarteten Felsen sind Punta Repaso und Punta Líder. Wer an einem der anderen Felsen klettern möchte, sollte besser vorher einen der Locals nach dessen Einschätzung fragen.
Routen während meines Aufenthaltes:
Felsen Punta Repaso
El Puso el Bolt 4+ (sehr einfach)
Ojos Carmelitas 5+ (einfach mit sehr scharfen Griffen am Ende der Route, toller Ausblick)
Um zum Paredón de Josué zu gelangen, kann man entweder die hundert Stufen zur Cueva de la Cabeza de la Vaca aufsteigen, die Höhle durchqueren und dem Pfad hinunter ins Tal folgen oder den Weg vor dem Eingangtor der Finca Raúl Reyes nach rechts weiterlaufen und den Mogote von der anderen Seite aus ansteuern.
Am Paredon de Josué ist es vormittags in der Regel noch angenehm schattig. Genau wie die Cueva Larga ist dieser Sektor eine gute Anlaufsstelle fürs Klettern am Vormittag/Mittag an heißen sonnenreichen Tagen.
Routen während meines Aufenthaltes:
Calentando Baterias 6+
Generell gilt beim Klettern in Viñales: Moskitospray und lockere lange Kleidung zur Moskitoabwehr dabei haben, nach jedem Klettertag gründlich nach Zecken absuchen. Selbstverständlich gelten auch ein Erste-Hilfe-Kit zur Ausstattung und für die Empfindlichen unter uns ein Antiallergikum für eventuelle Wespen- oder Bienenangriffe oder Moskitoanfälligkeit.